Den demographischen Wandel leben statt fürchten
Zukunftsszenarien mit unbequemen Wahrheiten werden gerne nach einem angemessen tiefen Stoßseufzer verdrängt. Für die komplexen Probleme des demografischen Wandels galt das ganz besonders. Doch mittlerweile zeigt sich, dass in vielen Fällen die Furcht vor Veränderung offenbar schlimmer war als die Veränderungen selbst. Immer mehr Städte und Kommunen beschäftigen sich konstruktiv mit der Situation in ihrer Region und strahlen eine positive Aufbruchstimmung aus. Weil die Ausgangssituationen und die Zukunftsprognosen sehr unterschiedlich sind, gibt es keine Patentrezepte.
Vier Jahre ist es her, dass Bielefeld als erste Stadt in Deutschland die Position einer „Demografie-Beauftragten“ eingerichtet hat. Der Job ohne Berufsbild ging an die Diplom-Soziologin Susanne Tatje. Neben einem beachtlichen Interesse der Medien führte diese strategische Entscheidung zu einem offensiven Umgang mit dem demografischen Wandel. In Bielefeld wird seitdem bei allen Planungen die prognostizierte Entwicklung der Einwohnerzahlen und der Altersstruktur berücksichtigt. Auch ohne die publikumswirksame Position der „Demografie-Beauftragten“ haben zum Beispiel Städte wie Cuxhaven, Heidelberg, Osnabrück sowie der Landkreis Holzminden früh den Handlungsbedarf erkannt und sich intensiv mit den Herausforderungen des demografischen Wandels beschäftigt.
Wie schmerzhaft ist das Schrumpfen?
Dass in den kommenden Jahren Deutschland leerer werden wird, steht außer Frage. Die Zahlen sind bekannt oder lassen sich detailliert im Internet abrufen. Die Bertelsmann Stiftung hat mit dem Wegweiser Kommune ein sehr hilfreiches Instrument geschaffen, dass für jede Kommune ab 5.000 Einwohnern Prognosedaten bietet (www.wegweiser-kommune.de). In einem Großteil der Städte und Kommunen werden weniger Menschen leben als heute. Bekannt ist auch, dass sich spätestens mit den älter werdenden Baby-Boomern das Verhältnis zwischen Jung und Alt dramatisch verschiebt. Orte wie Osterode am Harz oder Baden-Baden leben diese Altersstruktur bereits vor. Selbst das Optimum an familienfreundlichen Maßnahmen könnte immer weniger junge Frauen nicht dazu bringen, immer mehr Kinder zu bekommen, um das Ungleichgewicht aufzufangen. Auch Migration wird keinen Ausgleich zwischen Jung und Alt schaffen, da sind sich alle Wissenschaftler einig. Umstritten ist jedoch, wie schmerzhaft der Prozess des Schrumpfens sein wird, der mit der Überalterung einhergeht. Lange Zeit dominierte eine kultur- und wirtschaftspessimistische Sicht, die das Sinken der Bevölkerungszahlen gebetsmühlenhaft mit Verlust gleichgesetzt hat: Geringerer Wohlstand und eine eingeschränkte Lebensqualität waren fester Bestandteil aller Schreckensszenarien. Nun haben aber mehrere Ökonomen darauf hingewiesen, dass eine Verringerung der Bevölkerungszahlen in der Geschichte immer zu mehr und nicht zu weniger Wohlstand geführt hat. Mehr Grundbesitz verteilt sich beispielsweise auf weniger Bürger. Auch andere positive Effekte sind zu erwarten: So wird durch den geringeren Anteil junger Menschen in der Gesellschaft die Kriminalitätsrate deutlich sinken. Prof. Dr. Franz Lehner, Präsident des Instituts für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen, sieht auch in der veränderten Altersstruktur Potential, denn die Wirtschaft wird sich in seinen Augen auf die Bedürfnisse der älteren Menschen einstellen und so wieder Arbeitsplätze schaffen. Er bezeichnet gesellschaftliche Probleme auch als Chance, um Geld zu verdienen. Insgesamt stehen die Experten vor einem unglaublich facettenreichen Planspiel, wenn sie versuchen, die Wirkung in alle gesellschaftlichen Ebenen zu verfolgen. Und bei aller Wissenschaftlichkeit bleibt es immer auch ein Blick in die Kristallkugel.
Es wird auch Verlierer geben
In Regionen wie Sachsen-Anhalt oder den ehemaligen Zonenrandgebieten in Niedersachen und vielen anderen ländlichen Gebieten wird man allein mit dem neuen Optimismus der Ökonomen wenig anfangen können. Denn dass es kurzfristig betrachtet Verlierer des demografischen Wandels geben wird, bleibt eine Tatsache, die keiner bestreitet: „Die Entvölkerung der ländlichen Gebiete durch den anhaltenden Trend der Wanderungen von der Peripherie in die Zentren wird durch geringe Geburtenraten verstärkt, was die Infrastrukturkosten überproportional steigen lässt. Es stellt sich die Frage, warum dieses Phänomen als Problem angesehen wird. Wieso müssen und sollen im gesamten Bundesgebiet Menschen wohnen und leben? Wieso wird die Wanderung in die Kerne nicht gefördert und akzeptiert, dass periphere Räume wenig bis unbesiedelt bleiben? Das Schrumpfen der deutschen Bevölkerung könnte zum Rückzug des Menschen aus der Fläche führen, was durchaus begrüßt werden kann.“ So beschrieben 2006 Thomas Straubhaar und Sebastian Schröer vom Hamburger Weltwirtschafts Institut die anstehende Entwicklung. Der Blick auf das große Ganze ist vor allem auf lange Sicht legitim, aber er bietet wenig Raum für die aktuellen Probleme vor Ort. Schön kann man sich größere, idyllische Naturschutzgebiete mit einem sanften Tourismus vorstellen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass schon jetzt in bevölkerungsschwachen Gebieten der Artenreichtum der Tiere zunimmt. Eulen und Fledermäuse finden auch in leerstehenden Fabrikhallen und nicht nur in alten Burgen Schutz. Was Tier- und Naturschützer freut, ist keine ausreichende Perspektive für die Menschen vor Ort. Wenn Engpässe bei Bildungsangeboten oder der medizinischen Versorgung entstehen, werden die Menschen verstärkt in die Zentren abwandern. Es gibt aber Beispiele, wie auch in ländlichen Gebieten positive Entwicklungen angestoßen werden können. Der regionale Planungsverband Mecklenburgische Seenplatte hat beispielsweise durch intensive Kooperationen wichtige Strukturen erhalten können. Zugleich baut die Region ihre Bedeutung als Naherholungsgebiet und Urlaubsziel aus.
Weniger PR mehr Konzepte
Der demografische Wandel verweigert sich als stetig fortschreitender Prozess schnellen Lösungen. Die Ärmel hochgekrempelt und mal rasch den Bestand der nächsten 20 Jahre gesichert – das ist leider nicht möglich. Manch eine Maßnahme resultiert aber aus diesem Wunschdenken. Erkennen lassen sie sich daran, dass sie besonders PR-wirksam sind. Das „Kopf-Geld“ für die Ansiedlung neuer, junger Bauherren zählt zum Beispiel dazu. Dabei spielt es keine Rolle, ob tatsächlich Gelder ausgezahlt oder ob günstige Kondition für den Erwerb des Grundstücks eingeräumt werden. Handelt es sich um Neubaugebiete in Kleinstädten oder ländlichen Regionen, dann bergen solche Angebote für die Gemeinden meist mehr Risiken als Chancen. Zu viele Gelder müssen in den Ausbau und die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur gesteckt werden. Die Kosten für einen neuen Kindergarten oder Busverbindungen stehen dann in keinem Verhältnis zum Nutzen der Neuansiedelung. Außerdem sind solche Angebote in einer Region letztendlich ein Aufruf zum Verteilungskampf um die begehrten Altersgruppen. Die Bertelsmann Stiftung warnt nachdrücklich vor einem Konkurrenzkampf, der keine Gewinner kennt. Benötigt werden vielmehr durchdachte und einfallsreiche Konzepte, bei denen in einer Region am gleichen Strang gezogen wird. Ein Beispiel dafür ist das gemeinsame Flächenmanagement des Landkreises Rendsburg. Die aufeinander abgestimmte Entwicklung des Lebens- und Wirtschaftsraumes Rendsburg auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarungen ist das Ziel. Aktuell konzentriert sich die Zusammenarbeit auf die Themen Flächenentwicklung, Verkehr, Einzelhandel, Verwaltungszusammenarbeit, Regionalmarketing sowie die abgestimmte Entwicklung der sozialen, technischen und kulturellen Infrastruktureinrichtungen.
Die Fäden sollten in einer Hand zusammenlaufen
Die Bertelsmann Stiftung nennt fünf Kernbereiche, die Erfolgsfaktoren für Kommunen sind: eine zukunftsorientierte Seniorenpolitik, ein ausbalanciertes Infrastruktur-Management, eine kinder- und familienfreundliche Politik, Urbanität und Flächenmanagement sowie eine zukunftsorientierte Integrationspolitik. Selbstverständlich muss die regionale Wirtschaft bedacht und eingebunden werden. Wichtige Planungsgrundlage ist in einem ersten Schritt ein demografisches Gesamtkonzept. Es muss ermittelt werden, auf welchem Niveau man sich bei diesen fünf Handlungsfeldern bewegt. Daraus ergibt sich eine Priorität für die schrittweise Verbesserung der Situation vor Ort. Wie bei einem Puzzle setzen sich dann die unterschiedlichen Teile zusammen. So ist auch Susanne Tatje in Bielefeld vorgegangen. Andere Kreise und Kommunen wählen einen ähnlichen Weg: Mit dem Ennepe-Ruhr-Kreis, Bensheim und Plettenberg haben zuletzt drei weitere Stadt- bzw. Kreisverwaltungen die Position des Demografie-Beauftragten eingerichtet. In Schwerte ist ein Demografie-Ausschuss tätig. Es kristallisiert sich heraus, dass gute Ergebnisse erzielt werden, wenn vernetzt über zukunftsorientierte Projekte nachgedacht wird und die Fäden an einer Stelle zusammenlaufen. Die Komplexität der Aufgaben rechtfertigt die Einrichtung einer Stabsstelle. Bewährt hat sich zudem die Einbeziehung der Bürger in sogenannten Ideenwerkstätten. Zum einen werden daraus abgeleitete Maßnahmen mit einer ganz anderen Akzeptanz angenommen. Zum anderen bieten Bürger insbesondere was die Bereiche Integration und Bildung anbelangt so manches Mal ihre Mitarbeit an und leisten einen aktiven Beitrag dabei, Probleme in der eigenen Stadt oder Region zu lösen.
Förderprogramme und Ideenpools
Städte und Kommunen bekommen mehr und mehr Möglichkeiten, die wichtigen Themen innerhalb des demografischen Wandels mit Unterstützung in Angriff zu nehmen. Zunächst im Osten dann ab 2004 auch im Westen wurden beispielsweise staatliche Stadtumbauprogramme ins Leben gerufen, die durch Rückbau und Aufwertung ausgewählten Quartieren in den Städten ein neues Gesicht geben. Bundesminister Tiefensee hat jüngst die Aufstockung der Bundesfinanzhilfen für den Westen angekündigt, denn der Bedarf steigt auch hier. Neben der direkten Hilfe für zahlreiche Städte entsteht durch die geförderten Projekte ein Fundus von Ideen, die als sogenannte „Good Practices“ wichtige Anregungen für Problem-Lösungen bieten (z.B. bei www.werkstatt-stadt.de). Auch wenn es um eine zukunftsorientierte Seniorenpolitik geht, können die Kommunen sich an Leitprojekten orientieren. Programme wie „Neues Altern in der Stadt“ haben in den Pilotkommunen sehr konkrete Ergebnisse und Ideen generiert, die zur allgemeinen Nutzung publiziert werden (www.bertelsmann-stiftung.de). Einen sehr interessanten Überblick über Projekte im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel bietet die Website www.demographiekonkret.de. Städte und Gemeinden jeder Größe stellen hier Konzepte oder Vorgehensweisen vor, mit denen vor Ort die Weichen in Richtung Zukunft gestellt werden. Die Liste solcher und ähnlicher Plattformen sowie die Präsentation von Ergebnissen wächst deutschlandweit in allen Handlungsfeldern kontinuierlich und bietet einen Ideenpool, den es so noch nie gegeben hat. Die breite Nutzung des Internets hat hier für eine ganz eigene Dynamik gesorgt.
Die Themen des demografischen Wandels sind ohne Zweifel in den Köpfen der Menschen angekommen, denn es sind keine abstrakten Zahlen mehr, sondern klare Probleme, deren Auswirkungen man spüren kann. Es ist eine Politik der kleinen Schritte, die aber viel an der Stimmung der Menschen verändern kann, denn Maßnahmen in den Bereichen Wohnen, Familienfreundlichkeit, Integration oder Seniorenpolitik sprechen zentrale Lebensthemen an. Viele der bereits realisierten Projekte lassen die Hoffnung wachsen, dass der demokratische Wandel eine Chance und nicht die lange befürchtete Katastrophe ist.
Dr. Anke Münster